Liebe Studierende, hier mein Vortrag zum Seminar mit Prof. Dr. Bernhard Pörksen. Ich freue mich sehr auf die Diskussion mit Ihnen am 6.5. via Zoom. Sollten sich technische Fragen im Vorfeld ergeben, können Sie sich gern bei mir per E-Mail melden. Auch können Sie sich gern für den Newsletter des Social Media Watchblogs anmelden – wenn dies mit einer Adresse der Uni Tübingen geschieht, erhalten Sie in den kommenden Wochen unser Social-Media-Briefing im Rahmen Ihres Seminars kostenlos. Herzliche Grüße, Martin


Transkript

Wie wir digitale Medien nutzen, verändert sich die ganze Zeit. Alle paar Jahre erleben wir aber einen fundamentalen Umbruch, in der Art und Weise, wie Inhalte und Informationen verteilt werden. Aktuell ist wieder so ein Moment. Grund dafür ist der anhaltende Siegeszug von TikTok. Dass die App so erfolgreich werden konnte, hängt nicht so sehr damit zusammen, dass Leute gern kurze, lustige Videos gucken.

TikTok hat die Medienwelt deshalb so radikal verändert, weil die Macher mit einem Konzept gebrochen haben, das fast 20 Jahre lang das Internet strukturiert hat: das Follow-Prinzip.

Waren die 90er von statischen Websites geprägt, die 00er- und die 10er-Jahre von klassischen Social-Media-Angeboten dominiert, stehen wir nun an der Schwelle zu einer neuen Dekade: der Dekade von Recommended Media und damit auch dem Tod der Follower. Mit drastischen Konsequenzen für die Medienwelt.


Hi, mein Name ist Martin Fehrensen. Ich arbeite als freier Journalist an der Schnittstelle von Social Media, Politik und Gesellschaft. Seit mehr als fünf Jahren schreibe ich hauptberuflich einen Newsletter darüber, wie soziale Medien die Welt verändern und was das mit jedem einzelnen von uns zu tun hat.

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Um zu erklären, welche Implikationen dieser fundamentale Wandel für Medien und Gesellschaft hat, möchte ich drei Dinge zeigen: Was war, was ist, was kommt.

Zunächst ist es wichtig zu verstehen, wo wir herkommen. Warum konnten Plattformen wie Facebook, Instagram und YouTube so zentrale Rollen in der Informationsvermittlung einnehmen? Welche Motive verfolgen die Unternehmen? Warum verbringen wir alle so viel Zeit mit Social Media? Welche Chancen haben sich dadurch für Menschen ergeben, die vorher kein Gehör fanden? Was ist die Kehrseite davon? Welche Möglichkeiten und Herausforderungen haben sich dadurch für den Journalismus ergeben?

Wenn wir verstanden haben, wo wir herkommen, möchte ich erklären, wo wir gerade stehen.

Beim anfänglichen Hype um TikTok wurde zunächst nicht antizipiert, wie dramatisch der zugrundeliegende Verteilungsmechanismus der App für die weltweite Internet-Architektur werden würde. Zwar diskutieren schnell alle darüber, wie süchtig der Algorithmus mache, wir magisch der Algorithmus sei, ja sogar Vergleiche mit dem berühmten “Sorting Hat” aus Harry Potter wurden gezogen.

Doch erst jetzt verstehen wir so langsam, welche nachhaltigen Umbrüche mit TikToks anderer Sortierlogik einhergehen und welche Folgen das für Medien und Gesellschaft hat. Wenn die Publikation von Inhalten in den sozialen Medien einer Lotterie gleicht, dann lässt sich nicht mehr seriös arbeiten. Dann verkommt die Informationsvermittlung zu einem Casino. Willensbildung aber darf nicht zum Glücksspiel verkommen.

Im dritten und letzten Teil wollen wir einen Ausblick wagen auf das, was kommt. Die aktuell anrollende KI-Revolution wirkt wie ein Katalysator für all das, was sich derzeit im Umbruch befindet. Der Hype um Video ist weiter ungebrochen, der zunehmende Personenkult schlägt sich auch im Journalismus nieder. Echtes Community-Building – lange Zeit nur ein Lippenbekenntnis – steht im Fokus.

Was war

Desktop, Laptop

Die ersten Jahre haben wir das Internet nur stationär genutzt. Über einen Desktop-Rechner oder einen Laptop. Und genau so unbeweglich wie der Weg ins Internet war, war auch die Nutzungserfahrung selbst. Auf statischen Websites wurden Informationen abgerufen, die dem Gang in eine Bibliothek glichen. Alles recht nüchtern und wenig interaktiv. Aber dafür auch selbstbestimmt und zielgerichtet.

Browser auf, Adresse eingeben, Information abrufen, Browser zu. Keine Dark-Patterns, die einen dazu verleiten, noch hier und da zu klicken, noch das zu kommentieren, noch jenes zu teilen. Einfach nur ins Internet gehen und Informationen rausholen. So schnöde wie der Gang zum Bäcker.

Smartphone

2007 präsentierte Steve Jobs dann ein Gerät, das Musik abspielen kann, ein Gerät, das telefonieren kann und ein Gerät, mit dem man im Internet navigieren kann. Bei seiner legendären Präsentation dämmerte den Zuschauerïnnen erst mit der Zeit, dass es sich tatsächlich um ein Gerät handelt und nicht um drei.

Seitdem hat das iPhone, bzw. das Smartphone generell, einen unvergleichlichen Siegeszug hingelegt. Es steckt in jeder Tasche. Es ermöglicht weit mehr, als sogar ein Visionär wie Steve Jobs zu träumen gewagt haben dürfte.

Wir nutzen die digitalen Endgeräten mehr als 80 mal am Tag. Checken Nachrichten, kommunizieren mit Freunden, posten Selfies, bestellen Essen, buchen Flüge, machen Reservierungen, organisieren Arzttermine, rechnen, netzwerken, navigieren, sporteln, daten, zeichnen, überweisen, gucken, spielen, arbeiten, tracken, informieren uns…

Die Liste ließen sich nach Belieben verlängern, das App-Business ist Milliarden-schwer.

Doch so vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten auch sein mögen, eine Sache eint uns alle: die meiste Zeit verbringen wir mit Angeboten aus dem Silicon Valley, allen voran mit Apps aus dem Hause Alphabet und Meta.

Frei vs. unfrei

Anstatt also das freie und offene Internet zu nutzen, wie in der Zeit vor der Erfindung des Smartphones, nutzen wir nun in aller Regel ein Internet im Internet, und unterwerfen uns dabei den kommerziellen Interessen von Plattformen wie Facebook, Instagram, YouTube und TikTok.

PR

Die Plattformen sind allen Beteuerungen zum Trotz nicht angetreten, um die Welt zu einem bunteren, schöneren, gerechteren Ort zu machen. Sie sind auch nicht angetreten, um Communites zu schaffen. Sie sind auch nicht angetreten, um Menschen die Möglichkeit zu geben, sich Gehör zu verschaffen.

Sie sind in aller erster Linie dafür da, Geld zu erwirtschaften. Die Interessen ihrer Stakeholder zu bedienen. Diesem Ziel ist alles unterzuordnen. Und das gelingt ihnen auch mit Bravour.

Die Mär, dass die Plattformen die Welt näher zusammenbringen wollen oder das Wissen der Welt für alle verfügbar machen wollen, ist nichts als PR.

Und dennoch: der Siegeszug der Social-Media-Plattformen bringt in den 00er Jahren eine gewaltige Veränderung mit sich.

Partizipation

Waren die 90er Jahre von statischen Angeboten gerpägt, dann bieten die Social-Media-Angebote der 00er-Jahre auf einmal die Möglichkeit, sich selbst mitzuteilen.

Ich poste, also bin ich.

YouTubes Motto “Broadcast yourself” steht exemplarisch für den Wandel von einem Pull-Internet, in dem ich Informationen aktiv nachfrage, aber keine Interaktion erwarten, hin zu einem Push-Internet, dem sogenannten Web 2.0, das zum Mitmachen einlädt und mir Inhalte serviert, nach denen ich gar nicht gefragt habe.

Auf einmal informierte mich das Smartphone, dass es Neuigkeiten gibt: jemand hat mir geschrieben, etwas kommentiert, etwas gepostet, mein Foto geteilt, ein neues Video hochgeladen, mich hat jemand angestuppst, gegruschelt, gepoked…

Feed

Das zentrale Strukturmerkmal für alle Plattformen wird der Feed. Egal ob bei Facebook, Instagram oder Twitter (jetzt X): die App öffnet mit dem Feed, dort laufen alle Inhalte auf, dort tummelt sich die Welt.

Der Feed wird für einen Großteil der Menschen zum Synonym für “das Internet”. Wo hast du das gelesen? Bei Facebook. Wo hast du das gesehen? Bei Facebook. Woher weißt du das? Von Facebook.

Absender haben es zunehmend schwer erkannt zu werden. In den sozialen Medien ist alles gleich.

Subscribe

Ein zweites wesentliches Merkmal dieser Zeit ist die Möglichkeit, anderen Leuten folgen zu können. Bis dato gab es zwar schon RSS, um Websites zu abonnieren und an einem zentralen Ort die neuesten Inhalte aufzuzeigen. Allerdings hat sich RSS nie als wirklich Massentauglich erwiesen. Erst durch den Subscribe-Button in den sozialen Medien erreichte die Idee von RSS den Mainstream.

Dass man einfach Menschen oder Angebote abonniert, die man spannend findet, gab es so bis dahin nicht. Das Prinzip des Followers war geboren.

Mit der Erfindung des Follow- bzw. Subscribe-Buttons konnte man Leute also nicht mehr nur erreichen, sondern auch selbst ein Following aufbauen. So konnte man sichergehen, dass die Leute, die sich für die Dinge interessieren, die man postet, sie auch tatsächlich zu Gesicht bekommen.

Eine Art Ordnungssystem für das gesamte Internet. Ein Framework für die Verteilung von Kommunikation.

Algorithmische Sortierung

Doch nur weil viele Leute viel Zeug posten, heißt das noch lange nicht, dass Menschen auch viel Zeit auf den Plattformen verbringen.

Da Unternehmen wie Facebook aber umso mehr Geld verdienen, je mehr Werbung sie den Leuten anzeigen können, haben sie allergrößtes Interesse daran, dass die User maximal viel Zeit auf den Plattformen verbringen.

2011 führe Facebook daher ein weiteres wesentliches Merkmal ein, das von allen anderen Social-Media-Angeboten in der Folge adaptiert werden sollte: die algorithmische Sortierung der Beiträge nach Popularität.

In der Folge wurden Beiträge also nicht mehr chronologisch top-down im Feed präsentiert, sondern nach der Anzahl an Interaktionen – etwa Likes oder Klicks oder Kommentare – gewichtet.

Beiträge, die viel Engagement aufweisen, tauchen oben im Feed auf. Beiträge, die wenig Engagement aufweisen, werden im Feed weiter runtergereicht.

So konnte Facebook sichergehen, dass immer die Posts oben sind, die für am meisten Engagement sorgen.

Kommodifizierung von Inhalten

Für Facebook spielte es also fortan überhaupt keine Rolle mehr, wer der Absender war. Die Beziehung zwischen demjenigen, der etwas postet, und den Empfängern war damit erheblich gestört.

Selbst wenn man viele Abonnenten hatte, konnte man sich nicht mehr sicher sein, dass man sie auch wirklich erreicht. Nur wenn man es schaffte, seine Abonnenten dazu zu erziehen, möglichst viel mit den Inhalten zu interagieren, konnte die Beziehung einigermaßen stabilisiert werden.

Die Folge: Auf einmal mussten Posts besser sein als andere.

Grundlage dafür waren und sind Algorithmen, die von außen nicht eingesehen werden konnte. Also Verteilungsmechanismen, die zwar die Informationsflüsse der Welt kontrollieren, aber nur von einigen wenigen nicht demokratisch gewählten, vornehmlich weißen, reichen, privilegierten, jungen Menschen konzipiert werden.

Implikationen

Anstatt sich also von der Frage leiten zu lassen, was ist wichtig, was interessiert die Abonnenten, stand nun die Frage im Fokus: Was wird der Algorithmus favorisieren? Wie gut schneidet der Post ab? Wie schaffe ich es, den Algorithmus zu gamen.

Dieser Switch zu einer algorithmisch sorierten Timeline hatte zahlreiche Folgen: für die Plattformen, für die User und für die Medienbranche.

Die User verbrachten nun zur Freude der Anbieter deutlich mehr Zeit auf den Plattformen. In der Folge konnten die Plattformen mehr Werbung schalten, wodurch die Feeds, allen voran Facebooks Newsfeed, sich in wahre Geldruckmaschinen verwandelten. Zeitgleich entbrannte ein regelrechter Kampf um Aufmerksamkeit.

Mussten journalistische Angebote etwa vorher nur sicherstellen, dass sie möglichst vielfach abonniert werden, mussten nun die Posts besonders gut performen. Für Entertainment-Angebote mag das nicht besonders dramatisch sein. Im Nachrichten-Journalismus aber stieß man als verantwortlicher Redakteur schnell an seine Grenzen: Können wir das so formulieren, nur damit es besser geklickt wird? Sollten wir nicht lieber das andere Thema nehmen, von dem wir wissen, dass es öfter geteilt wird? Müssten wir nicht mal wieder etwas posten, das möglichst viele Leute liken?`

Selbst honore Traditionsadressen waren nicht davor gefeift, sich vom Kampf um Aufmerksamkeit auszunehmen. Click-Bait war in aller Munde, oftmals schaften es auch Geschichten ins Programm, die ohne Algorithmen, die Sensationen und Dramen bevorzugen, nie geschrieben worden wären.

Durch die faktisch messbare, zunehmende Popularität der Plattformen wurde auch die gefühlte Bedeutung der Social-Media-Apps immer größer. Das, was auf Twitter diskutiert wurde, stand am nächsten Tag in der Zeitung. Dass Twitter zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd ein repräsentatives Bild der Internet-Nutzerschaft darstellte, spielte keine Rolle. Darüber spricht das Netz, meinte eigentlich: Darüber wurde ein paar Tausend Mal getwittert.

Apps, mit denen sich nachvollziehen ließ, welche Themen gerade am meisten geteilt werden, gehörten fortan zur technischen Grundausstattung jeder Redaktion. Es wurde nicht mehr in erster Linie für das Publikum geschrieben, sondern für den Algorithmus. Ein amerikansicher Verleger hat es mal so zum Ausdruck gebracht: Süße Tiere zuerst, und wenn wir uns dann noch etwas Kriegsberichterstattung leisten könen, fein. Aber Tiere zuerst.

Doch nicht nur die Senkung journalistischer Standards wurde durch die Einführung der algorithmischen Sortierung zum Thema. Mindestens drei weitere Phänomene lassen sich beobachten:

Neue Stimmen

Durch Social Media konnten sich Menschen nun Gehör verschaffen, die ohne soziale Medien und eine algorithmische Sortierung sicherlich niemals ein so großes Publikum hätten erreichen können. Viral gehen, war jetzt das Ziel. Wollten Grundschulkids vor wenigen Jahren noch Fußballer, Ärztin oder Feuerwehrmann werden, träumten sie nun davon Influencer zu werden.

Neue Debatten

Auch erhielten Themen Einzug in die öffentliche Debatte, die von bonierte Feuilletonjournalisten vorher niemals wahrgenommen worden wären. MeToo der Black Lives Matter zählen zu den prominenste n Diskussionen, die erst durch Social Media an Fahrt aufnehmen konnten. Die durch Abertausende Posts auf Facebook und Twitter bewiesen, dass es sich nicht um Einzelfälle, sondern um strukturelle Probleme handelt.

Neue Wahrheiten

Aber auch neue “Wahrheiten” fanden ihr Publikum. Durch soziale Medien und die Priorisierung von Inhalten, die für viel Aufsehen sorgten, konnten sich auch Spinner, Schwurbler und Verschwörungsideologen jeder Couleur ein Publikum erarbeiten. Onkel Willi war endlich nicht mehr allein mit seiner kruden Meinung bei der Familienfeier. Er hatte ja nun in seiner Hosentasche ein paar Tausend Menschen dabei, die das alles genau so sahen mit den Flat-Earth-Theorien, Echsen-Menschen und Chemtrails.


Und als alle dachten, die Welt hätte Peak Content erreicht, kam TikTok.


Was ist

Der Siegeszug von TikTok*

TikToks Siegeszug kam schnell und zunächst unaufhaltsam. Kaum eine zweite App konnte jemals so schnell eine Milliarden Menschen erreichen. Als der Hype um die Kurzvideo-App 2019 ins Rollen kam, staunten zwar alle Experten über das unglaubliche Wachstum und das große Suchtpotential der App. Allerdings konnte keiner absehen, wie nachhaltig TikTok die App- und Medienlandschaft verwandeln würde. Drei Dinge:

Erstens hat heute jede App Kurzvideos im Programm: Instagram hat Reels, YouTube hat Shorts, ja sogar Spotify und Amazon habe ihre eigenen Kurzvideo-Formate eingeführt. Wer nicht in Kurzvideos kommuniziert, ist von gestern. Vom Zahnarzt bis zum Fliesenleger buhlt jeder um Aufmerksamkeit und Aufträge mittels Kurzvideos.

Zweitens hat heute so gut wie jede App, einen vertikalen Videofeed, der Videos nicht mehr nur im Feed anbietet, sondern Bildschirm-füllend abbildet. Ein Video nach dem anderen, per Swipe navigierbar.

Drittens schickt sich jede App an, eine Empfehlungslogik a la TikTok zu implementieren: Für TikTok spielt es kaum eine Rolle, ob ein User einem anderen Account folgt. Für TikTok zählt nur, wie die User mit den Inhalten, die TikTok ihnen präsentiert, umgehen. Wird das Video komplett geschaut? Wird es direkt weiter-geswiped? Klickt der User gar auf den Account, um weitere Videos des gleichen Creator anzuschauen? Wird ein und dasselbe Video mehrfach geschaut? Wie viele Sekunden insgesamt?

TikToks Entscheidung, eine Empfehlungsmaschine zu installieren, die sich aus dem gesamten Kosmos sämtlicher bei TikTok geteilten Inhalte bedient, widerspricht diametral der bis dahin gelernten Art und Weise, wie soziale Medien funktionieren.

Auf einmal waren große Followings nicht mehr viel wert. TikTok hat das Konzept des Followers komplett ausgehebelt. Subscriptions sind egal. TikTok baut den Feed komplett nach den Präferenzen des Users. Und schafft es so, dass die User noch mehr Zeit in der App verbringen, als es Facebook bei der Umstellung auf eine algorithmisch sortierte Timeline vermochte.

TikTok ist zeitgemäßes Fernsehen – mit einer Milliarde Programme und einem Regisseur, der dir maßgeschneidert Inhalte serviert.

Aus Social Media wird Recommend Media. Der Tod des Followers ist absehbar.

Die Folge: Mehr Konkurrenz, noch schwere Bindung zwischen Absender und Empfänger.

Die Plattformen, allen voran TikTok, erzählen gern die Geschichten von den einzelnen Superstars, die es geschafft haben: Lil Nas X, Charlie D’amelio, etc.

Auch gibt es singuläre Phänomene wie BookTok, die dann von einzelnen Branchen hochgejazzt werden, weil es ihnen selbst zur Zeit so mies geht, dass sie sich über ein bissl Buzz freuen.

Aber am Ende ist das die härteste Herausforderung für Kreative im Netz.

Neue Nutzung

Auch die User spüren, dass sich etwas verändert hat. Bereits seit Jahren stellen sie sich die Frage, welchen Nutzen es hat, auf Plattformen wie Facebook oder Instagram etwas zu posten, wenn sich dort so viele professionelle Accounts tummeln.

Waren die soziale Medien einst ein Ort, um sich auszutauschen und ein Stück der eigenen Identität zu formen, werden die Angebote heute fast nur noch passiv genutzt. Niemand postet mehr seine Urlaubsfotos bei Instagram, wenn am Ende überhaupt nicht klar ist, ob die Inhalte auch bei den Freunden und Bekannten im Feed landen.

Schon professionelle Medienanbieter haben ihre Mühe, sich im Kampf um Aufmerksamkeit durchzusetzen. Reguläre User haben kaum noch eine Chance, in der Content-Flut wahrgenommen zu werden. Eine Lean-Back-Haltung ist jetzt Standard.

Neue Apps

Gruppen / Messenger

Um sich mitzuteilen, nutzen User heute lieber Messenger. Dort können sie sichergehen, dass ihre Inhalte beim Gegenüber landen. Dort gibt es keinen Algorithmus, der bezwungen werden müsste. Die Posts müssen nicht besser sein als alle anderen Posts aus dem gesamten App-Kosmos. Zudem haben User in Gruppen und Messengern ein Gefühl von Privatsphäre - zwar befinden sie sich in aller Regel immer noch im Vorgarten von Mark Zuckerberg – aber es ist klarer abzugrenzen, wer mitliest. Es gibt die Gruppe für den Volleyball-Verein, für die Elternschafft und natürlich ist man auch Teil der verhassten Familiengruppe.

Special Interest Apps

Games

Ausdifferenzierung der Mediennutzung

  • Low intent / micro Moment: Feed, Stories
  • Low intent / macro moment: YouTube, TikTok
  • High intent / micro Moment: NEwsletter, Messenger, Gruppen
  • High intent / macro moment: Live, Podcast, Games, VR

Was kommt

All das stellt Medienschaffende vor enorme Herausforderungen. In den 00er und 10er-Jahren konnten Verlage enorme Reichweiten über soziale Medien erzielen. Zwar manches Mal zu Lasten der journalistischen Integrität, aber was die pure Reichweite anging, war die Welt für viele Verlage in Ordnung.

Jetzt aber stehen sie vor enormen Herausforderungen:

  1. Der Wandel von Social zu Recommend Media bedeutet, dass sie keinerlei Gewissheit mehr haben, ob ihre Inhalte beim Publikum landen.
  2. Der Video-Boom sorgt für zusätzliche Kopfschmerzen, haben doch längst nicht alle die Skills und Ressourcen, um Videos zu produzieren.
  3. Zudem lässt sich über Video nichts verdienen: Weder über Anzeigen noch über Klicks. Betrug der Traffic via Facebook in vielen Häusern über viele Jahre um die 20 bis 30 Prozent, verbuchen sie heute über TikTok nur noch um die 1 Prozent Traffic.
  4. Durch das veränderte Nutzungsverhalten der User sind Legacy Social-Media-Plattformen nur noch ein Teil der Social-Erfahrung. Verlage haben aber nicht die Power, um auf allen Plattformen gleichzeitig mitmischen zu können.
  5. Zudem verlieren Verlage Anschluss ans Publikum. Wenn die Feeds dieser Welt zunehmend passiv genutzt werden und sich Diskussionen und Gespräche in Messenger und Gruppen verlagern, dann lässt sich das für Dritte nicht mehr nachvollziehen. Weder quantitativ noch qualitativ.
  6. Auch nach gut 20 Jahren haben Verlage noch nicht verstanden, wie wichtig es ist, Communities aufzubauen. Social Media wurde lange Zeit als One-Way gedacht. Das alte Sender-Empfänger-Modell. Wie wichtig es aber ist, Menschen nachhaltig an die eigene Marke zu binden, wurde unterschätzt.
  7. Auch wurde es vielerorts verpasst, Köpfe aufzubauen. Wer als Journalist oder Journalistin in den sozialen Medien aktiv ist, tut dies oft auf eigene Faust. Die investierte Zeit ist in der Arbeitszeit nicht vorgesehen. Das passiert en top. Genau das ist es aber, was dem Journalismus hilft. Was die Menschen erwarten. Influencer und Creator leben es vor.
  8. Zudem zeigen Tech-Giganten wie Facebook und X, dass sie keine verlässlichen Partner sind. Während sich ddas ehemalige Twitter in eine Jauchegrube rechtsextremer Verschwörungsideologen verwandelt, hat sich Meta dazu entschieden, News immer weniger Raum auf den Plattformen zu geben. Mit Journalismus lässt sich einfach zu wenig verdienen.
  9. Last but not least, sorgt die KI-Revolution dafür, dass Journalismus an drei zusätzlichen Fronten herausgefordert wird:

a) finden Menschen zunehmend Antworten auf ihre Frage, ohne dass sie auch nur einmal einen journalistichen Artikel selbst gelesen habe. Angebote wie ChatGPT und Googles Search Generative Experience machen es möglich.

b) gibt es eine Flut an zusätzlichen Inhalten, gegen die sich journalistische Angebote durchsetzen müssen.

c) träumen die Plattformen bereits davon, dass sie ihren Usern KI-Angebote servieren können, die aus ihrer Sicht das beste aus den vergangenen zwanzig Jahren vereinen: ein Algorithmus, der so gut ist, dass Menschen passgenau das angezeigt wird, was sie sich wünschen, wobei es völlig egal ist, ob der Inhalt von einem Menschen stammt oder von einer KI – hauptsache die Leute verbringen weiterhin maximal viel Zeit auf ihren Plattformen.