Liebe Freunde, liebe Kollegïnnen
Ich habe mich dazu entschieden, meinen Account bei Twitter zu löschen. Wer mit mir in Kontakt bleiben möchte, folgt mir am besten bei Bluesky, Mastodon, Instagram oder Substack.
Lange Zeit dachte ich, das mit Musk beruhigt sich wieder. Der Spuk geht vorbei. Twitter wird bestimmt wieder so, wie es früher einmal war. Aber nichts wird wieder so, wie es war.
Elon Musk ist meines Erachtens nie angetreten, um aus Twitter eine Super-App zu bauen. Er verfolgt in meinen Augen eine politische Agenda. Es tritt damit genau das ein, wovor seit Jahren gewarnt wurde: Was passiert, wenn ein durchgeknallter Rechtsextremer eine der entscheidenen Social-Media-Plattformen übernimmt?
Bislang hatte es keiner geschafft, ein schlagkräftiges Social-Media-Angebot für die extreme Rechte aufzubauen. Gab, Parler, Truth Social — alles für die Tonne. Alles viel zu nischig. Twitter war weiter der zentrale Ort, an dem die Welt zusammenkam. Mit allen Höhen und Tiefen. Musk muss sich gedacht haben: Wenn ich einfach “Woke-Twitter” loswerde, dann habe ich mit einem Schlag das größte rechte Netzwerk der Welt. Et voilà — er ist fast am Ziel angekommen.
Nun lässt sich argumentieren, dass man doch bitte auf der Plattform bleiben sollte, um den Raum nicht den Rechtsextremen und Schwurblern zu überlassen. Dagegenhalten. Keinen Schritt weichen.
Auch ich habe lange Zeit gedacht, dass das die richtige Taktik ist. Doch ich bin mittlerweile anderer Meinung. Twitter, jetzt X, ist nicht der richtige Ort, um dagegenzuhalten. Der Grund liegt darin, wie die Plattform gebaut ist. X ist nicht für den Austausch von Argumenten konzipiert. Die App ist dafür gebaut, vor dem eigenen Publikum zu bestehen. X ist für Eskalation gebaut. Nicht für Dialog.
Wenn ich nun aber auf X mit Argumenten nix erreiche, dann performe ich nur vor all jenen, die eh schon meiner Meinung sind das ewig gleiche Schauspiel. Ja, damit kann ich womöglich weiter als persönliche Marke wachsen. Der Demokratie ist damit noch lange nicht geholfen. Und viel wichtiger: Ich legitimiere die Plattform. Ich sorge mit meiner Präsenz auf X dafür, dass Elon Musk Werbetreibenden erzählen kann, die App habe so und so viel täglich / monatlich aktive Nutzerïnnen. Bitte buchen Sie hier ihre Anzeigen.
Ich möchte mit meinem Account aber nicht länger dazu beitragen, dass X als relevantes Netzwerk erachtet wird. Ich möchte, dass Elon Musk mit seiner Plattform und seiner politischen Agenda scheitert.
Nun bin ich natürlich ein niemand. Nicht wichtig. Also nicht im Sinne der Weltöffentlichkeit. Für meine Freunde und Bekannten aber bin ich schon wichtig. Sehr sogar. Ich glaube fest daran, dass jede/r einzelne von uns Einfluss auf unmittelbare Kollegïnnen und Freunde hat. Wenn ich mit meinem Account nicht mehr bei X bin, ermutige ich vielleicht andere ebenfalls dazu, ihren Account dicht zu machen. Je größer das Netzwerk der Person, die ihren Account löscht, desto mehr Menschen, die sich dann vielleicht ebenfalls diesen Schritt zutrauen. Ich weiß, es tut weh.
Aber je mehr Leute sich dazu entscheiden, X den Rücken zu kehren, desto weniger Anreize gibt es für Werbetreibende, auf der Plattform Anzeigen zu schalten. Je weniger Unternehmen Anzeigen schalten, desto geringer ist die Chance, dass X überlebt. Je weniger Wirkmacht die Plattform in der öffentlichen Wahrnehmung hat, desto isolierter sind Musk und seine _Freunde_.
Mit gut 10k Followern hatte ich mir bei Twitter echt etwas aufgebaut. Meine berufliche Entwicklung hing entscheidend von diesem Netzwerk ab. Seit 2009 hatte ich dort einen Account. Aber wenn die App formerly known as twitter nun einem menschenverachtenden Irren gehört,
- der ernsthaft infrage stellt, dass man Menschen aus Seenot retten sollte
- der für die #fckAfD eine Wahlempfehlung ausspricht
- der täglich Verschwörungsideologien verbreitet
- der Rechtsextremen und Holocaust-Leugnern Raum gibt
- der Hassrede eine Plattform und Reichweite bietet
- der das Team vor die Tür setzt, das sich um die Integrität von Wahlen kümmert
- der Schein-Abstimmungen auf X wiederum für Demokratie hält
- der Widerspruch mit Kündigungen quittiert
- der ehrwürdige journalistische Institutionen und deren Mitarbeiterïnnen als “Lügenpresse” diffamiert
- der ehemalige Mitarbeiter als pädophil diffamiert
- der sich immer und immer wieder sexistisch, frauenfeindlich, trans- und homophob äußert
- der Antisemitismus befördert
… dann kann ich dort nicht weiter einen Account haben.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich ziehe mich nicht in meine private Komfortzone zurück und überlasse den Rechtsextremen das Feld. Das fehlt ja noch. Ich glaube nur nicht, dass ich auf X noch etwas ausrichten kann. X ist verloren. Niemand wird in ein paar Monaten X übernehmen und dafür sorgen, dass aus X wieder das alte Twitter wird. Die Plattform ist verbrannt. Die App ist Geschichte.
Ich bin Journalist, weil ich an einer aufgeklärteren, gerechteren und besser informierten Gesellschaft mitwirken möchte. Mit meinem Social Media Watchblog habe ich mir dafür einen guten Hebel aufgebaut. Wir berichten darüber, welchen Einfluss Social-Media-Plattformen auf Politik, Medien, Wirtschaft und Gesellschaft haben. Viele Tausend Menschen lesen und schätzen unsere Analysen. Auch setze ich mich privat immer wieder für Demokratie und Menschenrechte ein. Auf Demos, mit Spenden und ehrenamtlichen Tätigkeiten.
Mit meiner Präsenz auf X bewirke ich aber quasi das Gegenteil von all dem, woran ich glaube und wofür ich morgens aufstehe, was ich meinen Kindern mitgeben möchte und wovon ich träume. Dass die Welt zusammenrückt, offen und frei ist, wir für Menschenrechte und demokratische Werte eintreten. Immer und überall.
Wenn du deinen Account auf X ebenfalls löschen möchtest, dann solltest du an folgende Dinge denken:
- Lösche deine Direktnachrichten. Die sind dann zwar noch potentiell auf dem Gerät des Empfängers. Wenn das Gegenüber das gleiche tut, sind sie aber überall gelöscht.
- Lösche deine Tweets. Luca Hammer hat ein Tutorial bei YouTubehochgeladen, mit dem sich kostenlos alle Tweets löschen lassen.
- Luca hat ebenfalls ein tolles Tool gebaut, mit dem sich deine Followings auf anderen Plattform finden lassen: fedifinder.glitch.me
- Lösche deine Listen.
- Lösche dein Profilfoto.
- Lösche deinen Account.
Lösche aber auf gar keinen Fall das Feuer, das in dir brennt, um die Welt ebenfalls zu einem besseren Ort zu machen. Auch wenn Elon Musk alles daran setzt, dass es erlischen möge.
Wir lesen uns.
Martin